Interview mit Prof. Dr. Dr. Robert Sader
Informationen aus der Uniklinik Frankfurt am Main / Deutschland
1) Lieber Herr Prof. Sader, bitte stellen Sie sich kurz vor
Liebe Frau Masaracchia. Geboren wurde ich 1961 in Würzburg, wuchs aber in Düsseldorf im Rheinland auf, wo ich nach dem Abitur Medizin studierte. Erst gegen Ende des Studiums lernte ich das Fachgebiet der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie kennen und schloss gleich das notwendige Zweitstudium der Zahnmedizin in Bonn an. 1991 ging ich danach nach München ans Klinikum rechts der Isar zu Prof. Horch. Hier absolvierte ich meine Ausbildung zum Facharzt, 1997 erlangte ich die Zusatzbezeichnung für Plastische Operationen. Schon frühzeitig in der Spaltsprechstunde bei Horch wurde mein Interesse und meine Liebe zu den kleinen spaltbetroffenen Kindern geweckt. So geschah es fast zwangsläufig, dass ich in diesem Bereich habilitierte, unter anderem über die Sprechprobleme von LKG-Patienten und mögliche Behandlungsarten. 2002 folgte ich dann Prof. Hans-Florian Zeilhofer nach Basel und lernte dort PD Klaus Honigmann kennen, der das einzeitige operative Behandlungskonzept im deutschsprachigen Raum entwickelt hat. Was daraus geworden ist, wissen Sie. Seit 2005 bin ich jetzt am Universitätsklinikum Frankfurt und leite eines der größten Behandlungszentren für Kinder mit einer LKG-Fehlbildung in Europa. Neben meiner klinischen und wissenschaftlichen Tätigkeit in Frankfurt versuche ich aber auch an anderen Stellen Kindern zu helfen. So fahre ich z.B. jedes Jahr für 2 Wochen nach Nicaragua, um dort umsonst Spaltkinder zu operieren (www.nicaplast.ch).
2) Wie ist das Still-Prozedere in Ihrer Klinik bei einem Baby mit Spaltbildung?
Die Geburt eines Kindes mit einer Gaumenspalte bringt neben der psychologischen Bewältigungsproblematik für die Eltern häufig auch Ernährungsprobleme mit sich, die einer unterstützenden Anleitung der Mutter bedürfen. Der erste therapeutische Kontakt findet deshalb häufig zwischen den Eltern und einer Stillberaterin statt. Oft suchen Eltern sogar bereits vor der Geburt unsere Stillberaterin auf, wenn bei der pränatalen Ultraschalldiagnostik eine Spaltfehlbildung ihres Kindes festgestellt wurde. Gerade die Ernährung mit Muttermilch besitzt für Babys mit einer LKGS eine besondere Bedeutung. Zum einen benötigen die offen liegenden strapazierten Schleimhäute der Nase einen besonderen immunologischen Schutz, den nur die Muttermilch bieten kann. Zum anderen bedeutet der intensive Einsatz der Mundmuskulatur beim Stillen eine bessere Belüftung des Mittelohres und beugt so den häufiger auftretenden Mittelohrentzündungen vor.
Vor allem aus neuromuskulären funktionellen Gründen ist es für Spaltkinder besonders wichtig, dass sie an der Brust gestillt werden. Die durch die Spaltbildung fehlansetzende und unterentwickelte Mundmuskulatur kann durch das Stillen in einer der Ernährung mit einer Flasche vielfach überlegenen Weise speziell trainiert werden. Das leider immer noch häufige, unkritisch durchgeführte Anlegen einer nasogastralen Ernährungssonde direkt nach der Geburt sollte nur Kindern mit sehr ausgeprägten Schluckstörungen vorbehalten bleiben, da ansonsten dem Neugeborenen auch ein wesentlicher Teil seiner oralen Entwicklungs- (und Lust-) Phase vorenthalten wird. Leider werden immer noch viele Spaltkinder über lange Zeit über solche Sonden ernährt - aus Unwissenheit und nicht aus medizinischer Indikation! Die dann später notwendige Sondenentwöhnung des Kindes, die häufig unter stationären Bedingungen erfolgen muss, zeigt die Schwere der dadurch ausgelösten kindlichen Beeinträchtigungen.
3) Was gibt es zum Thema Gaumenplatte zu sagen, inwieweit ist sie für das Stillen und insgesamt hilfreich? (Könnten Sie 1-2 Fotos zur Verfügung stellen?)
Sehr bald nach der Geburt sollte bei Spaltbildungen des harten Gaumens eine sogenannte Trink- oder Gaumenplatte eingesetzt werden, mit der die Nahrungsaufnahme erleichtert wird. Bei reinen Gaumensegelspalten ist dies nicht notwendig. Der Abdruck kann schnell und einfach im Säuglingsbett erfolgen, eine Narkose hierfür ist heutzutage nicht mehr indiziert. Die in den ersten Lebenstagen in die Mundhöhle eingesetzte Gaumenplatte bleibt zunächst leicht mobil, es ist sogar ein Vorteil, wenn die Zunge mit der losen Platte spielt und sich dadurch trainiert; nur in seltenen Fällen kann eine Haftcreme hilfreich sein. Das Baby gewöhnt sich erstaunlich schnell innerhalb von Minuten an diesen Fremdkörper.
Mit der Platte können mehrere funktionelle Probleme behandelt werden. Zum einen wird durch die Platte eine künstliche Trennung von Mund- und Nasenraum erzielt, die die Nahrungsaufnahme deutlich erleichtert und das Stillen ermöglicht. Das natürliche Stillen ist das beste, schnellste und effektivste Training für die Zunge, denn beim Stillen wird nicht nur die Lippenmuskulatur trainiert, sondern auch die Zunge. Denn das Baby drückt die Milch aus der Brust durch rollende Bewegungen der Zunge und gleichzeitig kauende, melkende Bewegung des Unterkiefers heraus. Das natürliche Stillen ist damit das beste Muskelfunktionstraining für Zunge, Lippen und Mundmuskulatur, das man sich vorstellen kann! Daneben wird die Zunge durch die Gaumenplatte daran gehindert, sich in die Gaumenspalte zu legen und nimmt stattdessen ihre normale anteriore Ruhelage ein. Damit erhält der nicht selten verkleinerte Unterkiefer durch die Zungenbewegungen auch normale Wachstumsimpulse und beginnt sein Wachstumsdefizit aufzuholen.In den letzten Jahren wurden die Platten weiter modifiziert und mit weiteren aktiven Elementen versehen, um auch andere Defizite vor dem Spaltverschluss bereits funktionell zu behandeln. Man spricht hier von einem sog. Nasoalveolar-Moulding. Ob dies aber wirklich einen Vorteil bringt ist noch nicht bewiesen und der Behandlungsaufwand für die Eltern ist um ein vielfaches höher.
4) Was gibt es in den letzten Jahren Neues zum Basler Konzept zu berichten?
Beispielhaft für unterschiedliche operative Konzepte soll anhand des einzeitigen Spaltverschlusses die prinzipielle operative Technik gezeigt werden. Es ist nochmals darauf hinzuweisen, dass sich die meisten Zentren nicht prinzipiell in der eigentlichen chirurgischen Technik unterscheiden, sondern dass die Unterschiede vor allem in der zeitlichen Anordnung der einzelnen Schritte liegen. Der Gaumen wird entweder mit sog. Stiellappen, wenn möglich auch mit Brückenlappen präpariert und rekonstruiert, wobei besondere Beachtung auf die Wiederherstellung der Gaumenhebermuskulatur gelegt wird. Dabei wird die falsch liegende Gaumenmuskulatur an ihren richtigen Platz gebracht (sog. intravelare Veloplastik) und der Muskelring rekonstruiert, der wie ein Steigbügel den Gaumen beim Sprechen nach hinten und oben zieht.
Sehr wichtig bei der Gaumenrekonstruktion ist auch die Bildung der inneren Nase bis in den Vomerbereich hin. Die inneren Nasengänge sind eine wichtige Voraussetzung nicht nur für eine normale Atmung, sondern auch für normale Resonanzverhältnisse beim Sprechen.
In letzter Zeit häufen sich jetzt auch Untersuchungen zu Spätergebnissen nach einzeitigem Spaltverschluss. Auch hier findet sich bisher kein Nachweis einer speziellen Wachstumsbeeinträchtigung gegenüber anderen operativen Konzepten.
Fudalej P. et al: Dental Arch Relationship in Children with complete unilateral cleft lip and palate following Warsaw (one-stage repair) and Oslo Protocol. J Craniomaxillofac Surg 2009, online prepublished May 2009.
Im Rahmen der EUROCLEFT/EUROCRAN-Studie wurden unter Leitung des Spaltzentrums in Manchester (Leiter Bill Shaw) Patienten, die nach dem einzeitigen Verschlusskonzept des Spaltzentrums in Warschau behandelt wurden, erfasst und mit den EUROCLEFT-Ergebnissen verglichen. Ausgewertet wurden 61 Warschauer Patienten mit einseitiger LKGS-Spalten, bei denen ein einzeitiger Spaltverschluss im Alter von 9 Monaten erfolgt war. Die aktuelle Nachbeobachtungszeit liegt bei 12 Jahren. In diesem Zeitraum zeigten die Warschauer Patienten das gleiche Wachstumsmuster wie die Kinder der EUROCLEFT-Studien, d.h. es trat hier keine stärkere Wachstumsbehinderung auf.
Kommentar: Hier handelt es sich um die erste klinische Langzeitstudie, die den einzeitigen Spaltverschluss mit mehrzeitigen Konzepten bezüglich des Wachstumsverlaufes vergleicht. Die bisherigen Ergebnisse sind beeindruckend, müssen allerdings noch als vorläufig gelten, da die untersuchten Patienten den pubertären Wachstumsschub mit der Sagittalentwicklung des Kopfes noch vor sich haben. Aber immerhin wurde gezeigt, dass bis zur Pubertät die untersuchten Konzepte bezüglich Wachstumsbehinderung gleichwertig sind und die dem einzeitigen Verschluss lange nachgesagten schweren Wachstumsstörungen zumindest bis zur Pubertät nicht auftreten. In 5 Jahren wird Klarheit herrschen, ob dies auch für die restliche Wachstumsphase der Pubertät gilt oder nicht.
5) Welche Infos können Sie uns zur Pierre-Robin-Sequenz geben?
Die sog. „Pierre-Robin-Sequenz“ mit einer Inzidenz von 1:20.000 stellt auch heute noch ein besonderes Problem dar, mit dem oft unzureichend umgegangen wird. Begründet durch eine breite Gaumenspalte und eine deutliche Unterkieferrücklage kommt es zu einer Glossoptose, die zu einer lebensbedrohlichen Verlegung der Atemwege führen kann. Neben einem apparativen Atem- und Herzkreislauf-Monitoring beinhaltet die primäre Therapie die Lagerung des Säuglings in Seitenlage mit einer protrudierten Unterkieferlage. Eine modifizierte Gaumenplatte nach CASTILLO-MORALES mit einem anterioren Stimulus kann die Zunge reflektorisch nach vorne bringen und damit die Atemwege in leichten Fällen freihalten. Allerdings sind diese Maßnahmen nur bei einem gering ausgeprägten Krankheitsbild Erfolg versprechend.
Bei gravierender Symptomatik mit Verlegung der Atemwege und Apnoen kann noch im Kreissaal eine einfache operative Intervention im Sinne einer Glossopexie notwendig werden. Hierbei wird die Zunge mit einem Faden angestochen und mechanisch nach vorne gezogen. Dies sollte jedoch nur eine temporäre Maßnahme sein. Die leider auch heute noch häufig durchgeführte Extension des Unterkiefers, bei dem ein im Unterkiefer angebrachter Haken mechanisch über eine Rollenextension über Monate hinweg unter stationären Bedingungen das Unterkieferwachstum stimuliert, sollte der Vergangenheit angehören.
Das neue funktionsorientierte Konzept der Tübinger Zungenstimulationsplatte hat hier zu einem therapeutischen Quantensprung geführt. Die Platte verhindert nicht nur ein Zurückfallen der Zunge und damit die Verlegung der Atemwege, so dass die Kinder nach Plattenanpassung unter Heimmonitoring stationär entlassen werden können. Durch die Stimulation der Zunge holt der unterentwickelte Unterkiefer des Neugeborenen das Wachstumsdefizit bis zum Gaumenspaltverschluss im 4.-6 Lebensmonat ohne weitere Maßnahmen fast vollständig auf.
Abbildung: Plattenbehandlung einer Pierre-Robin-Sequenz, oben: Zungenstimulationsplatte. Unten links: Neugeborenes mit Pierre Robin, Mitte. Ergebnis der Plattenbehandlung, rechts: Situation mit 15 Monaten nach Spaltverschluss im 6. Lebensmonat. |
6) In wieweit wirkt sich eine frühe Verschlussoperation günstig auf den Stillverlauf und alle weiteren kindlichen Entwicklungen aus?
Sobald die Spalte verschlossen ist, hat das Kind alle anatomischen Möglichkeiten, um normal gestillt zu werden. Kannte das Kind die Brust als Nahrungsquelle bereits vor der OP und ist daran gewöhnt gewesen, klappt das Stillen nach einer Eingewöhnungszeit meist wunderbar. War ein normales Stillen nach der Geburt nicht möglich, ist das Kind an seinen Sauger gewöhnt und will bei der Form, Grösse und Konsistenz des Saugers bleiben, ist es nicht leicht, einen kleinen Menschen umzutrainieren.. Ich habe aber auch erlebt, dass Mütter es geschafft haben, ihre Kinder nach dem Spaltverschluss doch an die Brust anzulegen. Doch dafür muss man das Kind aktiv umerziehen und das ist meistens mit viel Aufwand und Weinen verbunden. Es muss jeder selbst entscheiden, was er seinem Kind zumuten will.
Jeder Mensch wächst in einem engen sozialen Kontext auf. Auch für Spaltkinder ist die wechselseitige Beziehung zu ihren Eltern ganz entscheidend für die geistige, aber auch psychosoziale Entwicklung. Beim frühzeitigen Spaltverschluss ist die Belastung für die Eltern um ein vielfaches kleiner, weil jetzt keine Operationen mehr anstehen, vor denen sich zwangsläufig Ängste aufbauen. Das Kind ist für die Eltern jetzt quasi „gesund“. Bei eventuell später noch notwendigen Korrekturen handelt es sich dann in der Regel um kleinere Eingriffe vor der Einschulung. Damit kann das Kind (und die Eltern) ohne die Bürde später noch notwendiger Operationen in einem normalen Familiengefüge aufwachsen und die Eltern können sich unbelastet von einer Notwendigkeit und den Risiken später noch folgender Operationen um ihr normal heranwachsendes Kind kümmern.
Auf der Seite des Kindes wissen wir inzwischen, dass eine Operation und eine stationäre Krankenhausbehandlung ein unbewusstes psychisches Trauma auslösen können, auch wenn diese Beobachtung des klinischen Alltags nur schwer objektivierbar ist. Aber erste Studien zu ausgelösten Schlaf- und Lernstörungen existieren bereits. Die einmalige Hospitalisation zum primären Spaltverschluss bietet insgesamt einen grossen Vorteil durch die Verringerung der psychischen Belastung für die gesamte betroffene Familie.
Neben diesen psychischen Aspekten bietet der einzeitige Soaltverschluss aber auch grosse funktionelle Vorteile. Der frühzeitige Verschluss des Gaumens ist von sehr grosser Bedeutung für eine normale und ungestörte Sprechentwicklung. Die primär gestörte Gaumensegel- und Zungenfunktion können so frühzeitig trainiert werden kann. Auf diese Weise sprechen die meisten Kinder bis zur Einschulung unauffällig und können in eine Regelschule eingeschult werden.